8. Ita­li­en­tag: Bi­blio­the­ken als Räu­me des Wis­sens

8. Ita­li­en­tag: Bi­blio­the­ken als Räu­me des Wis­sens

Organisatoren
Ingrid Baumgärtner, Italien-Netzwerk und Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel
Veranstaltungsort
Gießhaus
PLZ
34127
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.06.2022 -
Von
Torben Jordan, Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel

Bibliotheken als Orte des Lernens, des geistigen Vergnügens und des Bewahrens waren gerade auch im Italien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wichtige Stätten der Wissensproduktion und des gelehrten Austausches. Diese Räume als Ansammlungen von Wissen genauer zu studieren, war deshalb Anliegen des achten Italientages an der Universität Kassel, der dem Thema „Italienische Bibliotheken – Räume des Wissens / Biblioteche italiane – Io spazio del sapere“ gewidmet war. Bei ihrer Eröffnung verwies INGRID BAUMGÄRTNER (Kassel), Sprecherin des Italien-Netzwerks, auf die große Aktualität der Fragestellung, die dem Bedürfnis nach interdisziplinaren Angeboten, etwa im Zuge des Kasseler ITALICUM-Zertifikats oder zur Planung von Erasmus-geförderten Auslandsaufenthalten, entgegenkäme.

Die Vortragsreihe eröffnete JÖRG SCHWARZ (Innsbruck) zu Umberto Ecos Bibliotheken. Der 1932 in Alessandria in Piemont geborene Philosoph und Literaturhistoriker Eco, der viele Jahre lang als Professor für Semiotik in Bologna wirkte, wurde weltweit berühmt durch seinen Roman „Il nome della rosa“ (1980), der 1982 in deutscher Übersetzung erschien. Doch Eco war in seinem Leben nicht nur Professor und Autor, sondern auch Leser und Sammler. Seine Bibliothek umfasste etwa 30.000 moderne Bände, 1.200 ältere Drucke, 360 Inkunabeln und 380 Ausgaben aus dem 16. bis 19. Jahrhundert, deren Aufstellung einer klaren inneren Ordnung folgte. In der alphabetisch sortierten Sammlung waren die alten Werke, die er seine „Antiken“ nannte, in einem separaten, gut gesicherten Raum untergebracht. Der moderne Teil, bezeichnet als „moderne Bibliothek“, fungierte als Arbeitszimmer. Eco öffnete ihn sogar für Studierende, um ihnen das Studium der Bücher zu ermöglichen. Schwarz betonte, dass Eco in seinen modernen Bänden zahlreiche Anstreichungen und Randnotizen vornahm, was seine Bereitschaft verdeutliche, Bücher als Arbeitsinstrumente zu nutzen. Nach seinem Tod im Jahr 2016 schenkte seine Familie die „moderni“ an die Universität Bologna, die „Antiken“ hingegen an die Mailänder Nationalbibliothek. Diese Teilung der Sammlung ist jedoch nicht unumstritten, da sich Eco selbst nicht zum Verbleib geäußert hatte. Diese reale Bibliothek Ecos kontrastierte Schwarz anschließend mit der fiktionalen Bibliothek aus Ecos berühmtem Roman, welche – äußerst unhistorisch – die realitätsfern konstruierte Klosteranlage dominiere. Im Roman sei die Bibliothek, das sogenannte „aedificium“, das Zentrum der Handlung, der geheime Protagonist der Geschichte, während ein verschollenes Buch als zentrales Plotinstrument fungiere. Die fiktive Bibliothek, die entsprechend Ecos eigener Sammlung einer klaren Ordnung folge, sei verzweigt; ihre Anlage gleiche einem Labyrinth, wie es den Boden der Kathedrale von Reims ziere. Dieses Labyrinth sei ein Sinnbild der Intertextualität, der Begegnung von Texten, die sich vielfältig aufeinander beziehen und trotz der Irrungen und Wirrungen miteinander verflochten wären.

PIER ANGELO GOFFI (Brescia / Milano) und LUCIA MOR WUEHER (Brescia / Milano) stellten in ihrer von NIKOLA ROßBACH (Kassel) moderierten Präsentation die reichhaltige Sammlung Carlo Viganòs zur Wissenschaftsgeschichte in Brescia vor. Wueher schilderte Carlo Viganò (1904–1974), einen Ingenieur, der die Fabrik seiner Eltern übernahm, als begeisterten Sammler, der etwa 10.000 Bände erwarb, die aus der Zeit vom 15. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts stammen. Seine Motivation war seine Leidenschaft für wissenschaftliche Bücher, die er für Forscher:innen aus allen Ländern wie für Studierende bereitstellte. Herr Goffi konzentrierte sich in italienischer Sprache auf die Vorstellung der wichtigsten Werke aus den Bereichen der Astronomie, Mathematik, Hydraulik, Mechanik und Kartografie. Die Schriften von Galileo Galilei besitze die Bibliothek sogar vollständig. Auch sei der Nutzen der Sammlung für die Öffentlichkeit weiterhin ein wichtiger Teil ihrer Identität; davon profitierten Studierende der Universität ebenso wie die Allgemeinheit; Tage der offenen Tür würden das Publikum anlocken. Zuletzt beschrieb Goffi die thematisch-chronologische und formatabhängige Ordnung der Bibliothek sowie deren räumliche Beschränkung, wobei die Grundfinanzierung durch die Università Cattolica del Sacro Cuore gesichert sei. Dies entspreche dem Selbstbild Viganòs als Sammler, Käufer und Förderer der Wissenschaften, der selbst viele Schenkungen vorgenommen habe, aber nie als Forscher aktiv geworden sei.

Der Kunsthistoriker JAKOB LUCKSCHEWITZ (Kassel), zu dessen Vortrag VANESSA-NADINE STERNATH (Kassel) überleitete, behandelte die frühneuzeitlichen Wand- und Deckenfresken italienischer Bibliotheken samt deren Reproduktion und Verbreitung. Die Vervielfältigung in Drucken war das entscheidende Medium, um Kunstwerke aus der privaten und lokal stark eingeschränkten Sphäre in die bürgerliche Öffentlichkeit zu bringen. Diese Praxis untermalte Herr Luckschewitz mit eindrucksvollen Beispielen der Ausgestaltung aus der Bibliothek von Papst Julius II. (1443–1513), der Apostolischen Bibliothek im Vatikan und der Piccolomini-Bibliothek in Siena, welche 1502 bis 1507 ausgemalt wurde. Nach der Erfindung des Buchdruckes ermöglichte die Reproduktionen berühmter Werke die verstärkte Verbreitung von Kunst im kulturellen Austausch über die Landesgrenzen hinweg. Drucke konnten ihren Weg in die Lesestuben bürgerlicher Intellektueller finden, während der Zugang zu den Fresken selbst limitiert war. Dabei erlaubten die Reproduktionen gewisse künstlerische Freiheiten, etwa Bildausschnitte wegzulassen oder zu vervollständigen, wobei der Künstler des Originals stets vermerkt wurde. Häufig wurde im Stich eine Rahmung ergänzt, um die Perspektive des Kunstwerkes zu definieren. Herr Luckschewitz betonte, dass in der Rezeption immer ein Sinn für Originalität und Nachahmung geherrscht hätte. Die Kopisten wollten dem Original gerecht werden und das Werk möglichst authentisch reproduzieren.

Den Italientag beschloss FEDERICO SCARANO (Santa Maria Capua Vetere) mit seinem von ELENA VANELLI moderierten Vortrag über die Biblioteca Nazionale Vittorio Emanuele III im königlichen Palast von Neapel. Herr Scarano erklärte, dass diese wahrscheinlich wichtigste neapolitanische Bibliothek im zweiten Weltkrieg starke Beschädigungen erlitt und geschlossen werden musste. Glücklicherweise konnte die damalige Direktorin diverse Manuskripte verstecken und vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten retten. Heute verteilen sich die Räumlichkeiten auf zwei Stockwerke mit dem Lesesaal im Erdgeschoss und der Papyri-Sammlung, deren Schätze Scarano genauer charakterisierte, in der oberen Etage. Besonders beeindruckte aber die Schilderung technischer Hilfsmittel die Zuhörer:innen, wie etwa das Leserad, in dem zur Erleichterung der Lektüre mehrere Bücher platziert und rotiert werden konnten. Es wurde lebhaft diskutiert, ob das Leserad als Folge einer Feminisierung des Lesens im 18. Jahrhundert interpretiert werden könne oder es, wie Scarano meinte, lediglich als technischer Fortschritt für die Aristokratie zu betrachten sei.

Insgesamt kann der achte Italientag, der nach den durch Corona bedingten Einschränkungen der letzten beiden Jahre endlich wieder in Person stattfand, als ein voller Erfolg bezeichnet werden. Eindrucksvoll beleuchtet wurden reale und fiktive Bibliotheken, ihre künstlerische Ausgestaltung und ihre Sammlungsgeschichte. Die Vortragenden konnten die komplexen Räume des Wissens aus verschiedenen disziplinären Perspektiven verdeutlichen und im Zusammenspiel für die Zuhörenden greifbar machen. Auch die Diskussionen offenbarten das rege Interesse an der Bedeutung von Büchern und deren Sammlung in Form von Bibliotheken. Gerade im Digitalen Zeitalter stellt uns der Erhalt materieller Bestände und deren Zugänglichkeit in digitalisierter Form vor neue Chancen und Herausforderungen. Vortragende und Zuhörende waren sich einig, dass es in den kommenden Jahren gilt, die Probleme von Finanzierung, Örtlichkeit und Organisation zu lösen, sodass Bibliotheken und Sammlungen für die Öffentlichkeit erhalten bleiben.

Konferenzübersicht:

Ingrid Baumgärtner (Kassel): Begrüßung und Moderation

Jörg Schwarz (Innsbruck): Umberto Ecos Biblioteken – real und fiktiv

Nikola Roßbach (Kassel): Moderation

Pier Angeolo Goffi (Brescia / Milano) / Lucia Mor Wuehrer (Brescia / Milano): I fondi della biblioteca di storia della scienze “Carlo Viganò”

Vanessa-Nadine Sternath (Kassel): Moderation

Jakob Luckschewitz (Kassel): Der Parnass von Raffaello bis Raphael. Zur bildlichen Ausstattung italienischer Bibliotheken in der Reproduktionskunst

Elena Vanelli (Kassel): Moderation

Federico Scarano (Neapel): Bibliotheken in Neapel und Umgebung: Die Biblioteca Nazionale Vittorio Emanuele III im königlichen Palast von Neapel

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